Standard VII: Wer teilt, hat mehr. Anne Kaestle, Duplex Architekten, Zürich

Wie viel Raum ist genug? Hochpreisige Städte wie New York und Tokio nehmen eine Entwicklung vorweg, die inzwischen auch unsere europäischen Städte erfasst hat und sich weiter verschärfen wird: Wohnraum wird immer weniger bezahlbar. In der Folge reduziert sich die Wohnraumfläche pro Kopf entsprechend den finanziellen Möglichkeiten, bis das existenzielle Minimum erreicht oder gar unterschritten wird. Daher brauchen wir Wohnmodelle, die den Mehrwert urbanen Lebens in dichten Stadtquartieren offenkundig machen, die zeigen, wie der Einzelne mit einer reduzierten Wohnfläche leben kann und dabei von der verschwenderischen Großzügigkeit des Ganzen profitiert. Luxus wird neu definiert: Der Mehrwert liegt in der Gemeinschaft. Jede Wohnung muss dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Privatsphäre gerecht werden, auf der anderen Seite braucht es ein vielfältiges Angebot, an der Gemeinschaft teilzunehmen. Wohnqualität basiert auf einem wohl proportionierten Verhältnis von privaten Wohnbereichen und einem gesunden Anteil an gemeinschaftlich genutzten Flächen, dem Shared Space.

Haus und Stadt. Die Stadt fängt bei der Wohnung an. »Stadt« funktioniert nur als Gemeinschaft, und zwar als eine komplementär zusammengesetzte und durchmischte Gemeinschaft. »Stadt« ist kein statisches Gebilde, sondern ein sich ständig wandelnder Organismus, der sich primär nicht über das Territorium, sondern über die Beziehung seiner Bewohner definiert. Die Kombination von räumlicher Dichte und sozialer Breite bestimmt das städtische Leben, das immer im »Dazwischen« stattfindet – dem Raum, der allen gehört. Dazu braucht es Orte, die zufällige oder absichtliche Begegnungen untereinander ermöglichen. Wenn wir eine intakte, lebendige und vielschichtige Stadt zum Leben wollen, müssen wir sie aus Häusern zusammensetzen, die genau so gemacht sind.

Identität und Individualität, Nähe und Distanz. Gemeinschaft im Wohnen entsteht, wenn man sorgsam mit dem individuellen Bedürfnis nach Rückzug umgeht. Beides sind essenzielle Grundbedürfnisse des Menschen: Man will dazugehören (Identität) und sich gleichzeitig abgrenzen (Individualität). Der Schlüssel zu einer hohen Wohnqualität liegt in der feinen Balance von Autonomie und Einordnung, von Isolation und Kommunikation – es ist ein dialektisches System. Wohnen und damit auch das Zusammenleben in einem urbanen, städtischen Kontext basiert letztlich auf einem gesunden Verhältnis von Nähe und Distanz – und der Freiheit, zwischen diesen beiden Polen hin- und herpendeln zu können.

Nutzen ist wichtiger als Besitzen. Es ist an der Zeit, den Kerngedanken der Share Economies auf die Wohnungsfrage auszuweiten. Solange die Nutzungsrechte an bestimmten Gütern gesichert sind, müssen wir diese Dinge nicht mehr kaufen, um sie ganz für uns alleine zu haben. Diese Erkenntnis bestimmt einen Paradigmenwechsel unserer Generation: Nutzen ist wichtiger als Besitzen. Besitz hat noch in der Generation unserer Eltern einen ganz anderen Stellenwert eingenommen, der aus den existenziellen Nöten der Nachkriegsjahre gewachsen ist und sich in einer absoluten Wertschätzung alles Materiellen manifestiert hat. Von der heutigen Generation wird Besitz eher mit Verpflichtung in Verbindung gebracht, und Verpflichtung als Last empfunden. Wir leben in einer mobilen Welt, Freiheit heißt, ohne großen Ballast wählen zu dürfen. Frei ist, wer sich um wenig kümmern muss und dem dennoch sämtliche Möglichkeiten offen stehen. Den Austausch mit der Community gibt es gratis und en passant dazu. Wahlgemeinschaften nehmen dabei gegenüber den traditionellen Familienstrukturen einen höheren Stellenwert ein.

Mut zum Experiment. Zu diesen gesellschaftlichen Beobachtungen müssen wir weiterhin Visionen zum Wohnen der Zukunft entwickeln. Dabei bedarf es – von allen Beteiligten – einer großen Portion Mut, diese Prototypen auch umzusetzen. Entwerfen ist immer Spekulation und nicht jedes Experiment kann gelingen. Aber ohne Versuche werden wir nicht auskommen. Erst mit der Aneignung durch die Bewohner werden der Erfolg oder das Scheitern eines unerprobten Wohnmodells erfahrbar.

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