Standard II: Dichte als Möglichkeit. Tim Heide/Verena von Beckerath, HEIDE & VON BECKERATH, Berlin

Die großen Anstrengungen des Stadt- und Siedlungsbaus der Nachkriegszeit, die mit der Einführung von einheitlichen Standards im sozialen Wohnungsbau einhergingen, haben weitgehend konforme Familienstrukturen sowie die Trennung von Arbeiten und Wohnen vorgesehen. Heute ist die Gesellschaft sozial, ökonomisch und kulturell vielfältig differenziert. Angemessene und gleichzeitig selbstbestimmte Lebensentwürfe sind weder von der Teilnahme am kollektiven Leben noch von den Kosten und einer gerechten Verteilung von Wohnraum zu trennen. Allerdings führt gerade die zunehmende Verdichtung der Städte zu sozialer Ausgrenzung, weil die Grundstückspreise und folglich die Aufwendungen für das Wohnen stetig steigen. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer kritischen Reflexion, wenn nicht einer spekulativ-utopischen Konzeption von Dichte. Gemeint ist eine räumliche Dichte, die ihren Kontext offenlegt, eine Verbindung von Orten, Ereignissen und Interaktionen ermöglicht und in deren Zentrum die Bedürfnisse der Menschen selber stehen.

Dichte als Möglichkeit beruht auf Differenz. Die bauliche Dichte einer Gegend lässt sich statistisch auf unterschiedliche Weise darstellen und vergleichen. Die Anzahl der innerhalb eines Territoriums lebenden Menschen, die Summe der Haushalte und die Größe der Gebäude bezogen auf ihre Grundstücksfläche können hierüber Auskunft geben. Der Begriff der urbanen Dichte fügt der baulichen Dichte des Territoriums eine soziale Dimension hinzu und führt zu qualitativen Merkmalen. Wie heterogen hinsichtlich Alter, Bildung und kultureller Identität sind die Bewohner eines Hauses oder eines Quartiers? Welche geplanten oder ungeplanten Handlungen und Kommunikationsformen sind dort möglich? In welchem Verhältnis stehen individuelle Ansprüche und gemeinschaftliche Angebote zueinander? Wie zugänglich sind öffentliche Räume und wem gehören sie? Urbane Dichte ist relational und kann an verschiedenen Orten sowie vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gebäudetypologien und kultureller Erfahrungen anders gelebt und empfunden werden. Während die Anhebung baulicher Dichte in den Städten ökonomisch und ökologisch sinnvoll erscheint, da sie mehr und insbesondere auch neu zugezogenen Menschen Zugang zu infrastrukturellen und kulturellen Angeboten erlaubt, die Natur belässt und Landwirtschaft erhält, mangelt es an konkreten Vorstellungen und architektonischen Konzepten, wie sie sozialverträglich umzusetzen ist. Eine räumliche und gleichermaßen kollektive Dichte, die auf Differenz beruht, parallele Realitäten erlaubt und für alle zugänglich ist, wird zum Projekt.

Dichte als Möglichkeit ist offen für Transformation. Diese Konzeption von Dichte stellt Fragen an den politischen Auftrag bei der Verteilung von Grund und Boden, die wirtschaftlichen Bedingungen für den Bau von neuen Wohnungen und Häusern, die gesellschaftliche Bereitschaft vor dem Hintergrund von Verknappung und Teilhabe und nicht zuletzt an die Architektur, die Räume im städtischen Kontext ordnet und gestaltet. Gerade der Architektur kann unter bestimmten Voraussetzungen die Aufgabe zufallen, neue und widerständige Standards zu entwickeln, welche einer funktionalistischen und auf Wertsteigerung beruhenden Nachverdichtung eine ideelle Wertschöpfung entgegensetzen. Die genannten Parameter lassen sich daher nicht voneinander isolieren, wenn ein Paradigmenwechsel im Wohnungsbau möglich werden soll, der die Lebensqualität künftiger Generationen erprobt und zu ihrer Entfaltung beiträgt.

Dichte als Möglichkeit erlaubt Unvorhersehbares. An der Grenze zwischen Haus und Stadt trifft das »Drama menschlichen Bewohnens« (Alison und Peter Smithson) auf die Straße, den Platz, das Quartier. Oder vielleicht ist es genau umgekehrt: Das Haus, in seiner geplanten inneren Ordnung der Stadt nicht unähnlich, entwickelt eine Dichte aus unterschiedlich großen, aber angemessen zugeschnittenen und mit spezifischen Eigenschaften ausgestatteten Räumen zum Wohnen und vielleicht auch zum Arbeiten, die über Wege, Korridore und Treppen sowie Orte zum Verweilen miteinander verbunden sind. An manchen Stellen gibt es Einschnitte, um Licht und frische Luft hineinzulassen, an anderen Aufweitungen, um sich zu begegnen, auf dem Dach sind Gärten. An der dünnen, manchmal klar konturierten und manchmal unscharfen Grenze zwischen Stadt und Haus ereignet sich Unvorhersehbares.

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